27. Januar 2022

Ihr, die ihr sicher wohnt
In euren gewärmten Häusern,
Ihr, die ihr bei der Heimkehr am Abend

Warmes Essen findet und Freundesgesichter:

Fragt, ob das ein Mann ist:
Der arbeitet im Schlamm
Der kennt keinen Frieden
Der kämpft um ein Stück Brot
Der stirbt auf ein Ja, auf ein Nein hin.
Fragt, ob das eine Frau ist:
Kahlgeschoren und ohne Namen
Ohne Kraft der Erinnerung mehr
Leer die Augen und kalt der Schoß
Wie eine Kröte im Winter.

Denkt, daß dieses gewesen:
Diese Worte gebiete ich euch.
Ins Herz schärft sie euch ein,
Wenn ihr im Haus seid oder hinausgeht,
Wenn ihr euch niederlegt oder erhebt:
Sprecht sie wieder und wieder zu euren Söhnen.
Sonst sollen eure Häuser zerbersten,
Krankheiten über euch kommen,
Eure Nachgeborenen das Gesicht von euch wenden.


– Primo Levi (10. Januar 1946)


Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz durch die Rote Armee befreit. Auch nach 77 Jahren gilt es weiterhin den Opfern der Shoa und des deutschen Antisemitismus zu gedenken. Wir tun dies in dem Bewusstsein, dass Antisemitismus bis heute untrennbar mit der deutschen Gegenwart verbunden bleibt. Trotz vieler offizeller Gedenkveranstaltungen heute, bleibt Antisemitismus integraler Bestandteil des Denkens in der selbst ernannten Mitte der Gesellschaft ebenso wie der Ideologie organisierter Rechter und Verschwörungsgläubiger.

Die EAG Berlin schrieb dazu: „Die öffentliche Kritik des Antisemitismus, wie sie fest im Kanon deutscher Erinnerung verankert ist, gehört zu einem zentralen Legitimationsmoment Deutschlands. Ohne einen Begriff des Antisemitismus, wird die Erinnerung jedoch obsolet. Dem Paradigmenwechsel zum Trotze behält Adorno in seiner Kritik in ‚Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit‘ dementsprechend insofern Recht, dass nicht erinnert wird, damit Auschwitz nicht mehr sei. Der Wunsch nach einem Schlussstrich – wenn auch nicht wörtlich gefordert; wenn auch die Mahnmäler und Gedenkfeiern das Gegenteil zu beweisen versuchen – klingt gerade in dieser Art des Gedenkens weiter. Deutschland aber muss gebetsmühlenartig erinnern und mahnen, um sich immer wieder aufs Neue seiner eigenen Identität zu vergegenwärtigen, zu rechtfertigen, was nicht gerechtfertigt werden kann. Erinnern erscheint dann eingegliedert in einen Arbeitsprozess, eine ständige Reproduktion des Immergleichen. Die Erinnerung wird zum Produkt, das Deutschland mit Fleiß geschaffen und seitdem tüchtig reproduziert. Damit ist sie die Erlösung von der Geschichte, die es den Deutschen erlaubt wieder zu sich zu kommen. Die Erinnerung bedeutet im Falle Deutschlands Identitätspolitik. Sie ist instrumentell und dient einzig dem nationalen Ansehen, dem eigenen schlechten Gewissen und damit der Abwehr tatsächlicher Verantwortung.“

Wir halten unser antifaschistisches Gedenken dagegen, dass nicht müde wird einzugreifen und auf die Straße zu gehen gegen Antisemitismus und Rassismus. Erinnern heißt sich auch mit den weiterhin aktuellen Kämpfen der Überlebenden zu solidarisieren und gleichzeitig jeglichen rechten Vereinnahmungen und revisionistischen Einstellungen in Gesellschaft und Politik entgegen zu treten.